Presse - diese Seite ist in Bearbeitung

10.09.2007

Tastend der Aura des Gotteshauses nachgespürt

Erstmals Kirchenführung für Blinde - Esslingen wird Gastgeber der
bundesweiten Eröffnungsveranstaltung am Denkmalstag 2008
ESSLINGEN. "Historische Sakralbauten" - das Motto zum Denkmalstag war
Esslingen auf den Leib geschneidert, streift der Rundumblick am Marktplatz
doch gleich drei Kirchen. Tausende sind gestern durch ihre einladend geöffneten Türen gegangen.

Oberbürgermeister Jürgen Zieger hatte vor der Eröffnung des Tages des
offenen Denkmals gestern durchgezählt: 40 Stadtführerinnen und Stadtführer
waren angetreten, um die erwarteten Besucherscharen zu den insgesamt 17
Kirchenorten in der Stadt zu führen.

Erstmals hatte die für die lokale Programmgestaltung des bundesweiten
Aktionstags zuständige Esslinger Stadtmarketing & Tourismus GmbH (EST) dabei
auch eine Führung für Blinde angeboten. Die Premiere hat rund ein halbes
Dutzend Teilnehmer in die Esslinger Stadtkirche St. Dionys gelockt. Unter
Anleitung von Barbara Antonin vom Esslinger Verein "aus:sicht" hörten und
fühlten sich die blinden Menschen zu Orgelklängen durch das Gotteshaus.

Die drei den Kirchenraum bestimmenden Materialien Holz, Stein und Bronze
ertastend, erschlossen sie sich die Kirche, deren Geschichte sich bis zum
777 erstmals erwähnten und St. Vitalis gewidmeten Vorgängerbau
zurückverfolgen lässt. Selbst die Höhe des Kirchenraums, dessen ganzes
Ausmaß sonst auch Sehende nur mit Mühe erfassen können, haben die blinden
Besucher "begriffen" - einfach, indem sie die an einem heliumgefüllten
Ballon gebundene Knotenschnur bei seinem langsamen Aufstieg durch die Hände haben gleiten lassen. Mit über das Material gleitenden Händen hat sich die Gruppe auch ein Bild von der besonderen Struktur von Bleiglasfenstern
gemacht.

Die durch den Verlust der Sehkraft besonders sensiblen Besucher haben mit
ihrem Empfinden dem Wunsch, mit dem der Esslinger Dekan Dieter Kaufmann den Tag des offenen Denkmals gestern auf dem Marktplatz zusammen mit dem
Oberbürgermeister der Stadt eröffnet hatte, wohl am ehesten entsprochen.
"Betrachten Sie die Kirchen nicht nur unter kunsthistorischen
Gesichtspunkten, sondern lassen Sie die Aura der Gotteshäuser auf sich
wirken", hatte Kaufmann an die Besucher appelliert. Erst dann würden sie
erfahren, welche Sprache in den Orten der Einkehr und des Gebets, die nach
dem Willen ihrer Erbauer den Himmel abbilden sollen, wirklich gesprochen
würde. Es sei die Sprache des Glaubens, betonte der Dekan.

Zieger hatte zuvor auf dem Marktplatz den Denkmalstag in ein eher weltliches
Licht gerückt. Die Kirchen, so der Oberbürgermeister, stünden als bauliches
Erbe nicht nur im Zentrum der Stadt, sondern auch mitten in der
Gesellschaft. Seiner großen Zahl geschichtsträchtiger Gebäude in der
unversehrt durch die Kriegswirren gekommenen historischen Innenstadt hat es
Esslingen zu verdanken, dass es bei der 15. Auflage des Tages des offenen
Denkmals im Mittelpunkt des bundesweiten Interesses stehen wird. "Im
kommenden Jahr wird die zentrale Eröffnungsveranstaltung für ganz
Deutschland in Esslingen stattfinden", verkündete Zieger die Neuigkeit. Die
"besondere Ehre" (Zieger) ist sicherlich auch dem in Esslingen ansässigen
Landesamt für Denkmalpflege geschuldet. Dort haben sich gestern
Denkmalpfleger und Restauratoren bei der Arbeit über die Schulter schauen
lassen. Das in der Berliner Straße beheimatete und dem Regierungspräsidium
Stuttgart angegliederte Amt hatte den Tag der offenen Tür mit Führungen,
Vorträgen und Sonderaktionen begleitet.

Nicht nur in Esslingen, sondern im gesamten Kreisgebiet hatten die
Kirchengemeinden ihre Gotteshäuser für das Publikum geöffnet. Führungen
durch die sonst meist den öffentlichen Blicken entzogenen Sakristeien
erfreuten sich dabei besonderer Beliebtheit.

© 2007 Stuttgarter Zeitung

Autor: Thomas Schorradt - Stuttgarter Zeitung

« Meldungen Übersicht